Vom Dienst frei­ge­stell­te Beam­tin­nen und Beam­te, wie z.B. frei­ge­stell­te Mit­glie­der des Per­so­nal­rats kön­nen nicht beur­teilt wer­den. Für sie muss die­letz­te dienst­li­che Beur­tei­lung fik­tiv fort­ge­schrie­ben werden.

1. Anläs­se und Funk­ti­on einer fik­ti­ven Nachzeichnung

Beam­tin­nen und Beam­te, die vom Dienst frei­ge­stellt oder aus sons­ti­gen Grün­den ohne dienst­li­che Tätig­keit sind, kön­nen dienst­lich nicht beur­teilt wer­den. Damit fehlt ihnen aber die maß­geb­li­che Grund­la­ge für künf­ti­ge Per­so­nal­aus­wahl­ent­schei­dun­gen. Sie kön­nen ohne aktu­el­le Beur­tei­lung an Leis­tungs­ver­glei­chen, wie sie Art. 33 Abs. 2 Grund­ge­setz (GG) for­dert, nicht teil­neh­men. Dies wür­de sich auf ihre beruf­li­che Ent­wick­lung nach­tei­lig auswirken.

Um sol­che Nach­tei­le zu ver­hin­dern, gel­ten Benach­tei­li­gungs­ver­bo­te, die der Dienst­herr zu beach­ten hat. Das gilt ins­be­son­de­re für
  • Frei­stel­lun­gen von Mit­glie­dern des Per­so­nal­ra­tes (§ 46 Abs. 3 S. 6 Bun­des­per­so­nal­ver­tre­tungs­ge­setz (BPersVG)),
  • Frei­stel­lun­gen der Ver­trau­ens­per­son der schwer­be­hin­der­ten Men­schen (§ 96 Abs. 3 S. 1 Neun­tes Buch Sozi­al­ge­setz­buch (SGB IX) i.V.m. § 46 Abs. 3 S. 6 BPersVG),
  • die Tätig­keit der Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten (§ 18 Abs. 5 S.1 Bun­des­gleich­stel­lungs­ge­setz (BGleiG)
Auf­grund der Benach­tei­lungs­ver­bo­te ist der Dienst­herr ver­pflich­tet, frei­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten eine beruf­li­che Ent­wick­lung zukom­men las­sen, wie sie ohne Frei­stel­lung ver­lau­fen wäre (OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 6.6.2007 — OVG 6 S 6.07 -, Rn. 34, juris). Dar­auf besteht ein aus dem Benach­teiligungs­verbot her­zu­lei­ten­der Anspruch. Der Dienst­herr hat eine Pro­gno­se zu erstel­len, wie der beruf­li­che Wer­de­gang ohne die Frei­stel­lung ver­lau­fen wäre. Dafür eig­net sich das Rechts­in­sti­tut der sog. fik­ti­ve Nach­zeich­nung, mit der die letz­te dienst­li­che Beur­tei­lung fik­tiv fort­ge­schrie­ben wird.
Die fik­ti­ve Fort­schrei­bung fingiert
  • eine tat­säch­lich im Beur­tei­lungs­zeit­raum nicht erbrach­te Dienst­leis­tung und 
  • eine Fort­ent­wick­lung der Leis­tun­gen der Beam­tin oder des Beam­ten ent­spre­chend dem durch­schnitt­li­chen beruf­li­chen Wer­de­gang einer Grup­pe ver­gleich­ba­rer Beam­tin­nen und Beamten.
Mit der fik­ti­ven Nach­zeich­nung pro­gnos­ti­ziert der Dienst­herr, wie die Beam­tin oder der Beam­te vor­aus­sicht­lich zu beur­tei­len wäre, wenn sie oder er nicht frei­ge­stellt oder beur­laubt wäre und sich ihre oder sei­ne Leis­tun­gen wie die ver­gleich­ba­rer Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen fort­ent­wi­ckelt hät­te (BVerwG v. 16.12.2010 — 2 C 11.09 -, Rn. 9, DÖD 2011, 155). Die fik­ti­ve Nach­zeich­nung ist kei­ne Beur­tei­lung, son­dern ein Beur­tei­lungs­sur­ro­gat, das im Rah­men der Per­so­nal­aus­wahl bei Beför­de­run­gen oder sons­ti­gen Per­so­nal­ent­schei­dun­gen an die Stel­le einer feh­len­den aktu­el­len dienst­li­chen Beur­tei­lung tritt.

2. Rege­lun­gen

Für den Bereich des Bun­des ist das Rechts­in­sti­tut der fik­ti­ven Nach­zeich­nung in Anknüp­fung an die gericht­lich bestä­tig­te Pra­xis in § 33 Abs. 3 Bun­des­lauf­bahn­ver­ord­nung (BLV) nun­mehr aus­drück­lich vor­ge­schrie­ben und gere­gelt. Das gilt für fol­gen­de Fallgestaltungen:

  • Son­der­ur­laub für eine gleich­wer­ti­ge haupt­be­ruf­li­che Tätig­keit bei ande­ren Ein­rich­tun­gen (§ 33 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BLV),
  • Eltern­zeit mit voll­stän­di­ger Frei­stel­lung von der dienst­li­chen Tätig­keit (§ 33 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BLV),
  • Frei­stel­lun­gen von Per­so­nal­rats­mit­glie­dern, der Ver­trau­ens­per­son der schwer­be­hin­der­ten Men­schen und der Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten, wenn die dienst­li­che Tätig­keit weni­ger als 25 Pro­zent der Arbeits­zeit bean­sprucht (§ 33 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BLV).
Die­se in § 33 Abs. 3 BLV auf­ge­führ­ten Anläs­se für eine fik­ti­ve Beur­tei­lungs­fort­schrei­bung sind nicht abschlie­ßend (All­ge­mei­ne Ver­wal­tungs­vor­schrift (VV) zur BLV zu § 33 Nr. 2). Bei Beur­lau­bun­gen für Tätig­kei­ten bei ande­ren Ein­rich­tun­gen sol­len für die fik­ti­ve Fort­schrei­bung auch Beur­tei­lun­gen der auf­neh­men­den Stel­le her­an­ge­zo­gen werden.

Die fik­ti­ve Nach­zeich­nung für die Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­te ist auch in § 18 Abs. 5 S. 2 BGleiG aus­drück­lich vorgeschrieben.

3. Erfor­der­nis der Erprobungszeit

Für eine Beför­de­rung ist im Fal­le der Über­tra­gung einer höher­ran­gi­gen Funk­ti­on der Nach­weis der Eig­nung in einer Erpro­bungs­zeit erfor­der­lich (vgl. § 32 Nr. 2 BLV). Die Erpro­bungs­zeit beträgt min­des­tens sechs Mona­te und soll ein Jahr nicht über­schrei­ten (vgl. § 34 Abs. 1 S.1 BLV).

Nach dem BVerwG kann bei frei­ge­stell­ten Mit­glie­dern des Per­so­nal­ra­tes von der Ableis­tung der Erpro­bungs­zeit aber eine Aus­nah­me gemacht wer­den (BVerwG v. 21.9.2006 — 2 C 13.05 -, Rn. 13 ff., BVerw­GE 126, 333). Dies ver­lan­gen das per­so­nal­ver­tre­tungs­recht­li­che Benach­tei­li­gungs­ver­bot und der Schutz der Unab­hän­gig­keit der Mit­glie­der des Per­so­nal­ra­tes. Von einem ganz frei­ge­stell­ten Per­so­nal­rats­mit­glied kann nicht ver­langt wer­den, dass es sei­ne Frei­stel­lung voll­stän­dig oder ganz auf­gibt, um die Chan­ce der Beför­de­rung zu erhalten.

Vor­aus­set­zung für den Ver­zicht auf die Erpro­bungs­zeit ist aber, dass eine Pro­gno­se auf­grund des bis­he­ri­gen Wer­de­gangs des Per­so­nal­rats­mit­glieds und ver­gleich­ba­rer Bediens­te­ter ergibt, dass das frei­ge­stell­te Per­so­nal­rats­mit­glied den Anfor­de­run­gen der Erpro­bung aller Vor­aus­sicht nach gerecht wer­den wür­de. Feh­len nach der Pro­gno­se dem Per­so­nal­rats­mit­glied die erfor­der­li­chen Kennt­nis­se, Fähig­kei­ten und Erfah­run­gen, kann von einer Erpro­bung nicht abge­se­hen wer­den. Das Benach­tei­li­gungs­ver­bot fin­det dann sei­ne Gren­zen im Leis­tungs­grund­satz des Art. 33 Abs. 2 GG.

4. Rechts­schutz

a) Gel­tend­ma­chung des Anspruchs auf fik­ti­ve Nachzeichnung

Frei­ge­stell­te Beam­tin­nen und Beam­te haben aus dem Benach­tei­li­gungs­ver­bot oder einer recht­li­chen Rege­lung (§ 33 Abs. 3 BLV, § 18 Abs. 5 S. 2 BGleiG) einen Anspruch auf fik­ti­ve Nach­zeich­nung ihrer letz­ten regel­mä­ßi­gen dienst­li­chen Beur­tei­lung. Die­sen Anspruch kön­nen sie durch Kla­ge gericht­lich ein­for­dern, wenn der Dienst­herr einen ent­spre­chen­den Antrag abge­lehnt oder auf einen ent­spre­chen­den Antrag nicht reagiert hat. Der Anspruch setzt aber eine belast­ba­re Tat­sa­chen­grund­la­ge vor­aus, da ohne die­se eine belast­ba­re Pro­gno­se nicht getrof­fen wer­den kann (BVerwG v. 16.12.2010 — 2 C 11.09 -, Rn. 10 f., DÖD 2011, 155). Da mit zuneh­men­der Dau­er der Frei­stel­lung eine belast­ba­re Tat­sa­chen­grund­la­ge ent­fal­len kann, soll­ten frei­ge­stell­te Beam­tin­nen und Beam­te jeweils zu den Ter­mi­nen der Regel­be­ur­tei­lung eine fik­ti­ve Lauf­bahn­nach­zeich­nung für sich beantragen.
Der Anspruch auf Ertei­lung einer fik­ti­ven Nach­zeich­nung kann auch im Rah­men eines Kon­kur­ren­ten­streit­ver­fah­rens gel­tend gemacht wer­den (VG Ber­lin v. 11.12.2012 — 5 L 86.12 -, Rn. 21, open­Jur 2015, 2590). Liegt bei einer Bewer­bung einer frei­ge­stell­ten Beam­tin oder eines frei­ge­stell­ten Beam­ten um ein Beför­de­rungs­amt kei­ne fik­ti­ve Nach­zeich­nung vor, kann ein aktu­el­ler Leis­tungs­ver­gleich zwi­schen den Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber nicht durch­ge­führt werden.

b) Gericht­li­che Über­prü­fung auf Feh­ler­frei­heit der fik­ti­ven Nachzeichnung

Die Erstel­lung einer fik­ti­ven Nach­zeich­nung steht im pflicht­ge­mä­ßen Ermes­sen des Dienst­herrn, wobei auch Aspek­te der Prak­ti­ka­bi­li­tät berück­sich­tigt wer­den kön­nen. Die gericht­li­che Feh­ler­kon­trol­le einer fik­ti­ven Nach­zeich­nung beschränkt sich daher grund­sätz­lich auf eine Ermes­sens­über­prü­fung. Zur Wah­rung des Leis­tungs­prin­zips haben sich aber Grund­sät­ze her­aus­ge­bil­det, an denen die fik­ti­ve Nach­zeich­nung im Ein­zel­fall zu mes­sen ist, und deren Ein­hal­tung nicht im Ermes­sen des Dienst­herrn liegt und gericht­lich voll über­prüf­bar ist (VG Frank­furt a.M. v. 4.3.2013 — 9 K 1215/12.F -, Rn. 32, open­Jur 2013, 19668; OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 6.6.2007 — OVG 6 S 6.07 -, Rn. 34, juris).

Frei­ge­stell­te Beam­tin­nen und Beam­te kön­nen eine unvoll­stän­di­ge und feh­ler­haf­te fik­ti­ve Nach­zeich­nung im Rah­men eines Wider­spruchs über­prü­fen las­sen und gegen einen ableh­nen­den Wider­spruchs­be­scheid kom­bi­nier­te Anfech­tungs- und Leis­tungs­kla­ge erhe­ben (VG Frank­furt a.M. v. 4.3.2013 — 9 K 1215/12.F -, Rn. 18, open­Jur 2013; VG Frei­burg v. 21.10.2014 — 3 K 1230/12 -, Rn. 16, open­Jur 2014, 25217).

Auch im Rah­men eines Per­so­nal­aus­wahl­ver­fah­rens, an dem eine frei­ge­stell­te Beam­tin teil­nimmt, kann die Feh­ler­haf­tig­keit einer fik­ti­ven Nach­zeich­nung gerügt und gel­tend gemacht wer­den. Das gilt für frei­ge­stell­te Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber, deren Bewer­bung kei­nen Erfolg hat (OVG Nord­rhein-West­fa­len v. 5.10.2012 – 1 B 681/12 -, Rn. 6., NVwZ-RR 2013, 59); wie auch für ande­re Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber, denen die frei­ge­stell­te Beam­tin oder auf der Grund­la­ge einer fik­ti­ven Nach­zeich­nung vor­ge­zo­gen wird (OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 6.6.2007 — OVG 6 S 6.07 -, Rn. 32 ff., juris; VGH Baden-Würt­tem­berg v. 4.7.2008 — 4 S 519/08 -, open­Jur 2012, 60548;)

c) Gel­tend­ma­chung von Schadensersatz

Eine feh­len­de oder feh­ler­haf­te fik­ti­ve Nach­zeich­nung kann auch einen Scha­dens­er­satz­an­spruch aus dem Dienst­ver­hält­nis wegen Ver­let­zung der Für­sor­ge­pflicht (BVerwG v. 10.4.1997 — 2 C 38/95 -, DVBl 1998, 191; OVG Saar­lou­is v. 18.4.2007 — 1 R 19/05 -, NVwZ-RR 2007, 793) oder nach § 15 Abs. 1 All­ge­mei­nes Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) wegen Ver­sto­ßes gegen das Benach­tei­li­gungs­ver­bot begrün­den. Das kann der Fall sein, wenn die Beför­de­rungs­ent­schei­dung zu Unguns­ten frei­ge­stell­ter Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber bestands­kräf­tig ist oder die frei­ge­stell­ten Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber inzwi­schen in den Ruhe­stand getre­ten sind. Im Wege des Scha­dens­er­satz­an­spruchs kann ver­langt wer­den so gestellt zu wer­den, als ob die Beför­de­rung erfolgt wäre. Vor­aus­set­zung für den Schadens­ersatz­anspruch ist, dass er zuvor beim Dienst­herrn bean­tragt wur­de und die­ser den Antrag ablehn­te (BVerwG v. 10.4.1997 — 2 C 38/95 -, Rn. 18, DVBl 1998, 191).